Camargue – spontane Silvesterauszeit mit Hund und Reisemobil
Zuhause ist nicht nur EIN Ort...
Camargue – Silvesterauszeit mit Hund und Reisemobil
Eigentlich wollten wir nur für drei Tage meine Eltern über Weihnachten im Schwarzwald besuchen. Als wir in unserem idyllischen Appenzeller Heimatort kurz vor Weihnachten starteten, wussten wir selbst noch nicht, dass wir diesen erst in vier Wochen wiedersehen würden.
»Unverhofft kommt oft« Oder wie ein hebräisches Sprichwort es so treffend formuliert:
»Wenn du Gott zum Lachen bringen willst, erzähle ihm von deinen Plänen«.
Wir sind dann mal weg!
Als mein Mann am zweiten Weihnachtsfeiertag an einer Kreuzung auf der regnerischen, trüben Heimfahrt zu mir sagte: »Eigentlich sind wir jetzt schon fast in Frankreich. In der Camargue scheint ab morgen die Sonne!«, schaute ich ihn ungläubig von der Seite an. Halbherzig erwiderte ich: »Aber ich hab nur Wäsche für wenige Tage eingepackt«, grinste jedoch breit wie ein Honigkuchenpferd und nickte heftig.
Die Aussicht auf eine kleine Auszeit in milderen, sonnigen Gefilden am Meer als Alternative zu eisig kalten, schneereichen Dezember- und Januartagen in den Appenzeller Hügeln erschien mir zu verlockend. Und machte die Sorge um fehlende Kleidungsstücke um Längen wett. Wozu gab es schliesslich überall auf der Welt Waschsalons? Oder im Zweifel Geschäfte.
Unsere Ernährung für die nächsten beiden Tage war sowieso gesichert, denn meine sich stets sorgende Mama hatte uns mit reichlich frisch panierten Schnitzeln, Salat, Butter und vom Papa selbst gemachtem Brot und Konfitüre ausgestattet. Perfekt, um locker zwei Reisetage quer durch Frankreich bis ans Meer zu überleben. Darüberhinaus gibt es für mich als Kombüsenchef beinahe kein besseres Land, um Lebensmittel und Zutaten für die feinsten Mahlzeiten einzukaufen als Frankreich. Aber dazu später mehr.
»Ausserdem waren wir dieses Jahr noch gar nicht am Meer!«, untermauerte ich die Sinnhaftigkeit der spontanen Idee meines Mannes mit einem glücklichen Ausruf. »Für Herrn Monet und seine alte Knochen ist mediterranes Klima auch viel besser als die Eiseskälte zuhause.« Es gab tausend gute Gründe dafür, in Richtung Frankreich abzubiegen anstatt in Richtung Schweiz.
Aber die brauchten wir eigentlich gar nicht. Wie so oft waren wir uns mal wieder einig und fuhren auf direktem Weg in Richtung Süden.
Denn wir schrieben bereits den 26. Dezember und mussten uns beeilen, wenn wir noch im Jahr 2021 am Meer ankommen wollten, worauf wir wegen Corona bis dato im letzten Jahr verzichtet hatten. Mit drei Impfdurchgängen und ohnehin im eigenen Reisemobil stets sehr distanziert zu anderen Menschengruppen, meinten wir, endlich den Schritt in die grosse, weite Welt wieder wagen zu können. Zeit wurde es, denn die Decken und Wände zuhause waren bereits sehr eng geworden, was selbst die dreimaligen Gassigänge mit Hund pro Tag in schönster Schweizer Natur auf die Dauer nicht mehr kompensieren konnten.
Camargue statt einsamer Insel
Lange Rede, kurzer Sinn. Wir befanden uns auf dem Weg in die Camargue.
Eine kleine, spontane Auszeit…die berühmte »einsame Insel«, die wir alle uns hie und da immer mal wieder wünschen. Eine diebische Freude überkam mich im Angesicht dieses kleinen Abenteuers, von dem keiner ausser uns wusste.
Nachdem wir in Frankreich auf diversen Raststätten vergebens nach dem neuerdings vorgeschriebenen Aufkleber für LKW’ s gesucht hatten: »Angles Morts«, wurden wir schliesslich fündig, statteten unseren Koffer ordnungsgemäss mit den drei hässlichen Aufklebern aus und setzten unsere Fahrt gen Süden im Dauerregen fort.
Am ersten Abend fanden wir schliesslich in einer kleinen Stadt, direkt an der imposanten Rhône einen unspektakulären, dafür umso ruhigeren Parkplatz neben einer geschlossenen Schule, wo wir ungestört übernachten konnten. An der Rhône waren wir auf jeden Fall schon mal richtig, denn dieser breite Fluss mündet am Ende in der Camargue im Mittelmeer. Nicht umsonst heisst die ganze Region dort »Bouches-du-Rhône«.
Am zweiten Tag unserer Reise klarte der Himmel bereits auf, was wir für ein gutes Omen hielten.
Les-Saintes-Maries-de-la-Mer, die (heimliche) Hauptstadt der Camargue
Bevor wir unser Ziel, einen grossen Parkplatz mit Ver- und Entsorgung, direkt hinter den Dünen am Meer in Les-Saintes-Maries-de-la-Mer, der Hauptstadt der Camargue anpeilten, bat ich unseren »Capitain de la rue«, an einem der unglaublich gut sortierten französischen Supermärkte anzuhalten, um ein paar Vorräte für die nächsten Tage zu bunkern. Wohlwissend, dass dies ein zeitintensives Unterfangen würde, erfüllte er den Wunsch seiner Ehefrau dennoch und hielt vor einem Intermarché. Glück hat ja viele Namen, aber für eine begeisterte Köchin wie mich, heisst es ab und zu tatsächlich auch ganz profan: Intermarché oder Leclerc.
Nun konnte uns nicht mehr viel passieren. Ein paar ungestörte, ruhige Tage am Meer waren gesichert. An einem Ort, den wir von früheren Reisen, meist nur als Durchreisestation nach oder von Spanien als sehr schön kannten.
Auf dem sandigen Stellplatz, etwas ausserhalb des kleinen Städtchens gelegen, zwischen Mittelmeer auf der einen und der typisch Sumpflandschaft mit ihren vielen Salinen Lagunen auf der anderen Seite, war am 28. Dezember nicht viel los. Wohl mehr als im Februar oder März der letzten Jahre, aber immer noch nicht so viel, dass es uns abgeschreckt hätte.
Ganz offensichtlich hatten die vorhandenen Wohnmobilisten sich in den verschiedenen »Reihen« des sehr grossen Sandplatzes nach Nationalitäten gruppiert. Obwohl solchen »Gruppenbildungen« gegenüber normalerweise eher skeptisch, fanden wir den für uns geeigneten freien Platz doch tatsächlich in der »Schweizer Reihe«. Zufall oder Bestimmung? Darüber liesse sich trefflich diskutieren und wieso das für die weitere Reise eine Rolle spielen würde, dazu im nächsten Reisebericht mehr. Jedenfalls platzierten wir unseren Koffer gegenüber dreier Schweizer Wohnmobile. Einem Aargauer und zwei Bernern, deren Eigentümer nachmittags um drei Uhr gemütlich draussen beim Apéro in der Sonne sassen und uns fröhlich mit ihren Weingläsern zuwinkten und willkommen hiessen. Ja, richtig, am 28. Dezember, nachmittags um drei Uhr, im T-Shirt draussen in der Sonne.
Seelenbalsam – Wenige Menschen, viel Natur und »La Mer«
Zuerst einmal ans Meer…kurz über das wohlbekannte Holzbrückli, das über einen Lagunenarm führt, hinauf zum Strandweg, über die Sanddüne et voilà:
»La Mer!« präsentierte sich mit leichtem Wellengang und einer sanften Brise von seiner schönsten Seite. Aufatmen – das ganze letzte Jahr mit seinen wenigen Höhen und zahlreichen Tiefen in einem Augenblick einfach weg schnaufen und vergessen! Definitiv ganz grosses Glück! Und immer wieder ganz erstaunlich, dass sich manche Dinge einfach niemals abnutzen. Das Meer, sein charakteristischer Duft nach Salz, und Algen, ein leerer Strand, Sonnenauf- und untergänge. Jedes Mal wieder ganz grosses Kino. Und Dopamin pur.
Als ob auch er dieses überschwängliche Glücksgefühl kenne, sauste Herr Monet ohne Leine am menschenleeren Strand entlang wie in seinen besten, jungen Jahren. »Wo ist hier ein alter Hund? Den gibts hier nicht!«
Ein wenig wehmütig spazierte ich an dem grossen, bizarr geformten Baumstamm vorbei, der hier bereits vor zwei Jahren als Schwemmholz angespült wurde und seither pittoresk als Sitzgelegenheit dient. Auf ihm hatte ich Monet an seinem dreizehnten Geburtstag fotografiert und nun stand unser Hund schon kurz vor seinem fünfzehnten. Und wieder auf besagtem Baumstamm!
Was inzwischen alles geschehen war… Diesem Baumstamm war es egal. Ebenso wie dem Meer, das endlos Tag und Nacht an den Strand rollt, egal, was in der Welt sonst passiert. Philosophische Gedanken bahnten sich ihren Weg. Und wohlige Ruhe breitete sich aus. Ja, es war eine gute Entscheidung. Und ja, ich liebe meinen Mann dafür, immer wieder im richtigen Moment an einer Kreuzung abzubiegen.
Wir hatten keine Ahnung, wie lange wir bleiben wollten, aber bis ins neue Jahr ganz sicher. Und dann neu entscheiden.
Am nächsten Tag führte uns der morgendliche Gassigang am Strand entlang in Richtung Ort. Das tief stehende, warme Winterlicht der Sonne verwandelte die Landschaft magisch.
Möwen segelten an einem kitschig blauen Himmel dahin, Kormorane trockneten ihre Flügel auf den Steinauslegern, die hier als Wellenbrecher dienen und manchem Angler als Stützpunkt. Gegenüber, in den Lagunen der Sumpflandschaft, stolzierten pinkfarbene Flamingos durch das seichte Wasser auf der Suche nach den begehrten kleinen Krebsen, die ihrem Gefieder diese besondere Farbe verleihen.
Umringt von Enten, grossen Fisch-, Grau- und eleganten, satinweissen Seidenreihern. Wohlwissend, dass auch die Camargue nicht mehr so ursprünglich ist, wie sie einmal war, hatten wir dennoch das Gefühl, hier sei die Welt noch in Ordnung. Viel Natur, wenig Menschen. Genau das, was wir suchten.
Monet war in seinem Element. Denn die wenigen Menschen, die uns begegneten, meist Einheimische mit ihren Hunden, waren ebenfalls entspannt und liessen ihre Vierbeiner ebenso ohne Leine den Strand, das Meer und andere Hunde erkunden.
Schwanzwedelnd näherte sich unser Vierbeiner jeder anderen Fellnase: »Willst Du mein Freund sein?« Sie wollten. Alle! Mehr als unserem Rentner manchmal lieb war. Und die Besitzer der Hunde? Ebenfalls alle entspannt und stets mit einem freundlichen Lächeln im Gesicht. »Bon Jour!« »Ca va?« Une bonne journée!« Die französische Höflichkeit, ein weiterer Punkt, den wir an unseren gallischen Nachbarn so sehr schätzen. Neben dem guten Essen und den phantastischen Landschaften.
Wir lieben verpennte Nester mit ihrem morbiden Charme in der Nebensaison.
Am Ende des Strandes folgten wir dem Fussweg, entlang des Hafens von Les-Saintes-Maries-de-la-Mer, wo neben etlichen kleinen Yachten, Segelschiffen und Motorbooten auch ein paar Fischerboote in der Sonne an den Kais dümpelten.
Die Restaurants und kleinen, hippen Seafood Bars auf der anderen Strassenseite waren jetzt, ausserhalb der Saison zum Grossteil geschlossen. Nur einige wenige versuchten wohl, das Weihnachts- bzw. Silvestergeschäft mitzunehmen. Es mutet irgendwie schon ein wenig skurril an, wenn in mediterranem, schneefreiem Klima bei schönstem Sonnenschein Weihnachtslieder aus den Lautsprechern klingen. Aber das hatten wir vor ein paar Jahren bereits noch viel skurriler, da in einem islamischen Land, sogar in Marokko erlebt. Als Reisende sind wir so einiges gewöhnt. Auch im Ortszentrum tönte der wiederentdeckte Hit »Hallelujah« von Leohard Cohen, als Weihnachtslied verkitscht, aus allen Ecken. Vor einem kleinen, für unsere Begriffe ein wenig trostlosen Weihnachtsmarkt langweilten sich weihnachtlich geschmückte Shetland Ponys, die auf Kundschaft in Form reitwilliger Kinder warteten. Eine schräge Szenerie.
Wir schlenderten weiter, und ich entdeckte eine Poissonnerie, einen Fischladen, der allerdings nur freitags geöffnet hat. Der kommende Freitag würde Silvester sein. Mein Mann sah das Schild an, dann mich, grinste und meinte: »Schon verstanden. Am Freitag dann mit dem grossen Rucksack…!«
Ein zufriedenes Nicken meinerseits. Denn rein zufällig hatten wir vom Weihnachtsessen bei meinen Eltern, das wir am ersten Feiertag dort für sie gekocht hatten, eines meiner Lieblingskochbücher aus Südafrika an Bord und unsere schweren, gusseisernen Petromax Feuertöpfe. Wie oft hatte ich im heimatlichen Appenzellerland schon das Rezept für das Miesmuschel Curry oder für die Seafood Paella mit Couscous studiert? Und jedes Mal wieder sausen lassen, weil Appenzellerland und Seafood einfach verschiedene Welten sind. Aber jetzt, jetzt war meine Chance gekommen!! Der Merker für Freitagmorgen war gesetzt.
Im Ort gibt es noch weitere, kleine Geschäfte, die uns Wohnmobilreisenden und Feinschmeckern sehr entgegen kommen. Einige sehr gute Bäckereien, wo es die unvergleichlichen Baguettes, Croissants und Pains au Chocolats gibt, die man allerdings sehr zeitnah vernichten muss, um in den vollen Genuss zu kommen. Dazu unglaubliche Patisserie Kreationen.
Mein Konditorentochterherz war entzückt! Zumal ich sowieso ein paar Kilos zulegen wollte. Der richtige Ort dafür. Für meine beiden Fleischtiger gab es im Ort eine gut sortierte Metzgerei, die keine Wünsche offen liess und für die gesunden Beilagen zwei kleine Supermärkte mit grossen Gemüse- und Obstabteilungen. Beinahe tat es mir schon wieder leid, dass wir zuvor bereits Vorräte eingekauft hatten. »Wir müssen auf jeden Fall länger bleiben!«, stellte ich fest, »allein schon wegen des kulinarischen Angebots hier!«
Wie schon bei Monaco Franze gern zitiert: »So eine schöne Seife!«
Und nicht nur das. Auf die Gefahr hin, spätestens jetzt als Luxusweibchen und dekadent zu gelten, hier gab es sogar Geschäfte, die diese wundervoll duftenden, aus natürlichem Oliven- oder Arganöl produzierten, provençalischen Bio Seifen aus Marseilles anboten. Echte Handschmeichler mit fein moussierendem Schaum. Zu Coronazeiten erst recht geschätzt und geliebt. Seit Monaten waren zuhause unsere Seifenvorrätee von früheren Provençereisen aufgebraucht. Und nur noch eine einzige Lavendelseife war in meinem Kleiderschrank gehütet worden wie mein Augapfel.
Wieviel angenehmer, dazu auch noch nachhaltiger und umweltschonender sind diese »altmodischen«, unverpackten Seifenstücke im Gegensatz zu den schnöden Flüssigseifen mit Palmöl in Plastikspendern und -verpackungen.
»Warte bitte kurz mit Monet nur einen Moment draussen!«, schon war ich mit meiner sensiblen Nase mittendrin im Seifen-Duft-Fieber! Lavendel versteht sich in der Provençe ja von selbst! Dazu ein bisschen frischer Zitrusduft, Grapefruit und Orange für warme Sommertage. Veilchen – französisch Violette, auch optisch! Und was war das?
Da stand doch tatsächlich auf einem weissen Seifenstück »PASTIS« eingeprägt. Ich schnupperte neugierig an diesem Exemplar und tatsächlich, es verströmte den typischen Anisgeruch, den ich an dem südfranzösischen »Gesöff« so sehr mochte. Eine Pastis Seife musste also auch noch mit. Und eine zweite als Mitbringsel für meine liebe Nachbarin, die gern an lauen Sommerabenden mit mir den einen oder anderen Pastis im Garten geniesst.
In Seifendüften schwelgend musste ich schmunzeln, fiel mir doch mitten in Südfrankreich meine alte Wahlheimat München ein mit ihrem Original und seiner Kultserie, dem Monaco Franze, der seinen verflossenen Geliebten gern einmal zum Abschied eine »schöne Seife« schenkte…anstatt was Glitzerndes für den Finger.
Doch zurück in die Camargue. Wir hatten beschlossen, entgegen unserer sonstigen Gewohnheit, immer kurz an ein uns demselben Ort zu verweilen, dieses Mal für ein paar Tage hier zu bleiben. Mal richtig »Ferien« zu machen wie andere Leute auch. Die Umgebung mit allen Sinnen richtig kennenzulernen, in den Tag hinein zu leben und die Seele baumeln zu lassen. Durchaus passend zu diesem Vorsatz spazierten wir jeden Morgen am Strand an der Holzruine eines ehemaligen Strandrestaurants vorbei, dessen Name unser Programm werden sollte für die nächste Zeit: »Farniente«!
Ein zauberhafter Ort für einen Jahreswechsel
Beinahe täglich wurden unsere nachmittäglichen Strandspaziergänge belohnt mit unglaublichen Sonnenuntergängen.
Und die Nächte mit tausenden funkelnder Sterne über dem schwarzen Meer. Vincent van Gogh fiel mir beim Anblick all dieser Schönheit ein. Nicht weit von hier, im Sanatorium des Klosters Saint-Paul-de-Mausole in Saint-Rémy-de-Provence, hatte er ein Jahr lang gelebt und dort während einer unglaublich produktiven Schaffensphase 100 Zeichnungen und 150 Gemälde kreiert, darunter seine weltberühmte Sternennacht.
»Die Hoffnung durch einen Stern ausdrücken, die Sehnsucht der Seele durch einen strahlenden Sonnenuntergang«. (Vincent van Gogh)
Welch zauberhafter Ort, um hier das alte Jahr zu verabschieden und das neue ganz in Ruhe zu begrüssen! So pilgerten wir am 31. Dezember morgens früh ins kleine Hafenstädtchen, um beim Fischhändler die Ingredienzen für mein erträumtes Muschel Curry zu erstehen. Denn wie jedes Jahr wollten wir Silvester einfach nur ganz still mit einem feinen Essen begehen.
Ich hatte es schon befürchtet, diese Idee hatten ausser uns so ziemlich alle einheimischen Hausfrauen und -männer wohl auch gehabt. Denn vor der Poissonnerie stand bereits eine halbe Stunde nach Öffnung eine lange Schlange wartender Kunden, fröhlich ins Gespräch vertieft, was wegen der obligatorischen Schutzmasken noch temperamentvoller geschah als sonst. Das erforderte nun einiges an Geduld für Mann und Hund, die sich das bunte Treiben stoisch wartend ein wenig abseits ansahen.
Ich reihte mich derweil ein und genoss still lauschend das Palaver um mich herum. Muschel- und Fischrezepte wechselten von Mund zu Ohr genauso wie die neuesten Dorfgerüchte. Mittendrin statt nur dabei! Wie sehr ich das auf Reisen liebe. Als ich nach einer gefühlten Ewigkeit endlich an der Reihe war, waren die Miesmuscheln leider schon ausverkauft. Menno! Oder wie der Franzose seufzen würde: »Mais, non!« Pah, Luxussorgen…da unsere gesamte Auszeit unter dem Zeichen der Spontanität stand, fackelte ich nicht lange und disponierte kurzfristig um.
Ein paar superfrische Jakobsmuscheln, mit Knoblauch und Petersilie in Butter gebraten als Vorspeise, und danach zwei edle gebratene Seezungen konnten das Muschel Curry als Silvestermenü locker ersetzen. Noch eine Handvoll frischer Garnelen für ein Risotto am ersten Januar, und der Kombüsenchef, also ich, war glücklich. Wie immer in französischen Fischläden flog noch eine frische Zitrone in meine Einkaufstasche, bevor ich zufrieden grinsend zu meinen wartenden beiden Jungs ins Freie trat.
Une Bonne Année 2022 – zuhause ist nicht immer ein Ort!
Das neue Jahr begrüsste uns mit ein wenig Nebel, was wohlgemerkt nicht am Alkoholgenuss des Vorabends lag.
Etwas Mystisches, Stilles lag über dem sanft plätschernden Meer und dem einsamen Sandstrand, als wir dort entlang gingen und keiner Menschenseele begegneten ausser einem frühen Angler. Nicht nur der frühe Vogel fängt den Wurm, sondern auch der frühe Angler mit dem Wurm den Fisch!
Nur »Herr Kowalski«, den wir in Anlehnung an einen anderen Hund so getauft hatten, und der uns seit Tagen immer mal wieder am Strand oder im Ort stets allein begegnet war, begrüsste Herrn Monet schwanzwedelnd und freundlich. So als ob er seinem Kumpel ein gutes neues Jahr wünschen wolle. Wir wussten nicht, ob »Herr Kowaslki« ein wild lebender Hund ist, dafür war er eigentlich viel zu gepflegt, oder ob es sich hier um einen wahren Freigeist handelte, der einfach gern alleine seine Runden drehte und sein Ding machte. Was mir persönlich sehr sympathisch war.
Er lief uns immer wieder über den Weg, freute sich jedes Mal sehr über Monet und nahm auch gerne hie und da etwas Futter von uns an. Nur streicheln wollte er sich nicht lassen. Vermutlich schlechte Erfahrungen mit der Nähe von Menschen. Sogar nachts um zwei Uhr, als unser Rentnerhund partout mal raus wollte, traf ich »Herrn Kowalski« unverhofft am einsamen Strand unter dem unendlichen Sternenhimmel und freute mich sehr über diese ungewöhnliche, nächtliche Begleitung. Wie aus dem Nichts tauchte er stets auf und verschwand auch wieder ebenso schnell im Nichts. Ein guter Geist auf allen Wegen.
Sind es nicht diese unverhofften Begegnungen, die uns auf Reisen immer wieder anrühren? Die bestimmte Orte zu besonderen Orten machen und manche Momente zu speziellen, so dass wir uns gerne und lange daran erinnern?
So hatten wir in Les-Saintes-Maries-de-la-Mer jeden Morgen noch eine weitere besondere Begegnung der anderen Art. Beginnend mit dem ersten Januar lief uns dort täglich ein etwas älterer, schmächtiger Mann mit Hornbrille und einem Schlüssel um den Hals über den Weg. »Woody Allen« kam mir bei unserer ersten Begegnung spontan in den Sinn. Denn genauso sah er aus.
»Bon Jour! Avez-vous une cigarette pour moi s’il vous plait?«
Nein, da wir leider nicht rauchen, hatten wir keine Zigarette für den Herrn, was wir ihm freundlich erklärten. »Ach, das macht nichts! Ich wünsche Ihnen ein gutes neues Jahr! Une bonne, bonne année pour vous et votre famille!«, rief er uns fröhlich lächelnd hinterher, was wir ebenso freundlich erwiderten. Jeden Tag dasselbe Ritual. So viele gute Wünsche zum neuen Jahr hatten wir noch nie bekommen. Er gehörte plötzlich zu unserem Tagesablauf, genau wie »Herr Kowalski« oder das tägliche, frische Buttergipfeli, das wir uns in der Bäckerei holten.
Wie schnell fühlt man sich an einem Ort plötzlich zuhause, wenn man den immer gleichen Wesen begegnet mit ihren Ritualen. Und selbst Teil davon wird. Neulich habe ich in einem wundervollen Buch das Zitat gelesen: »Zuhause ist nicht immer ein Ort«, als es darum ging, dass uns oft Menschen oder Tiere als Freunde ein Zuhause sein können, ganz unabhängig vom Ort. Als Reisende haben wir sehr oft die Erfahrung gemacht: »Zuhause ist nicht immer EIN Ort«, weil wir uns, den Gegebenheiten entsprechend, sehr schnell an unterschiedlichen Orten zuhause fühlen können. Hier in der Camargue, in diesem ausserhalb der Saison total verschlafenen Örtchens Les-Saintes-Maries-de-la-Mer mit seinen entspannten Einwohnern stellte es sich einmal mehr ein, dieses wohlige Gefühl der Vertrautheit.
Wer kämpft kann verlieren…
So verlängerten wir unsere »Ferien« um eine weitere Woche. Denn auch am nächsten Freitag wollte die gut sortierte Poissonnerie nochmals von mir besucht werden. Im Sternzeichen Löwe Geborene geben nicht so schnell auf! Das Muschel Curry stand noch immer auf dem Speiseplan, dazu eine weitere Premiere: Seafood Paella mit Couscous.
Und dieses Mal hatte ich Glück. Ich fand alle gewünschten Zutaten für beide Gerichte, so dass unserer selbstgewählten mediterranen Eiweiss-Diät und Schlemmerei nichts mehr im Wege stand. Inzwischen wurde ich vom Fischhändler auch bereits als Stammkundin erkannt, so dass er mir eine schicke Einkaufstasche und einen Wandkalender mit französischen Fischrezepten dazu schenkte…»Zuhause ist nicht immer ein Ort….«
Apropos nicht so schnell aufgeben. Auf dem Rückweg sahen wir am Hafen gerade ein paar Fischer mit ihren Booten zurückkehren und ihren Fang in Kisten auf die Kaimauer entladen.
Sie waren bis zum Rand gefüllt mit glänzenden, teils noch zuckenden Fischlaibern, so dass mich sofort das schlechte Gewissen plagte mit meinen Fischeinkäufen in der Tasche. Bevor ich zu Robert etwas sagen konnte, sah ich plötzlich einen der oberen, armen, gefangenen Fischkörper sich kraftvoll aufbäumen und befreit mit einem schwungvollen Satz aus der tödlichen Kistenfalle ins Hafenbecken springen. »Platsch«, weg war er, der Glückliche, dem ich seine Freiheit so von Herzen gönnte. Wir sahen uns an, nickten und bestätigten uns einmal mehr eines unserer Lebensmottos: Egal, wie schwierig oder aussichtslos eine Situation auch immer scheinen mag, man darf einfach niemals aufgeben! Denn wer kämpft, kann verlieren. Aber wer nicht kämpft, hat schon verloren.
Der geneigte Leser wird sich fragen, was haben die denn ausser »Philosophieren, Essen und Spazieren gehen« noch alles gemacht in den drei Wochen Camargue? Nicht so viel, schliesslich hatten wir ja Ferien!
Die Landschaft und die Tierwelt hier ist so besonders, dass wir stundenlang einfach nur in Ruhe geschaut, gestaunt, fotografiert und gefilmt haben.
Robert hatte seine Drohne mit dabei und konnte sie ausgiebig testen. Was einer Schar Uferschnepfen beim fliegenden Start allerdings gar nicht zu gefallen schien, so dass sie sich in geraumer Höhe mit Gebrüll auf den seltsamen Fremdling stürzten, der nach dieser unliebsamen Begegnung seinerseits abstürzte…und zunächst als verschollen gelten musste. Dieses Desaster, bei dem glücklicherweise kein Flattermann zu Schaden kam, wurde filmisch festgehalten in folgendem Werk:
Auch wenn man die unglaubliche Stimmung und bezaubernde, wilde Schönheit der Camargue im Winter in Wort und Bild nur schwer vermitteln und vermutlich nur selbst wahrhaft erleben kann, habe ich dennoch versucht, meine Eindrücke und Emotionen dieser kleinen Auszeit über den Jahreswechsel ebenfalls in einen kleinen Film zu packen…
…vielleicht als Inspiration für Dich, ganz sicher aber mit den besten Wünschen für uns alle in diesem noch so jungen Neuen Jahr 2022!
Une bonne, bonne Année und…
nurMut…spontan sein tut manchmal gut!
Wer wissen möchte, an welchen zauberhaften Platz uns der Tipp unserer Berner und Aargauer Wohnmobilnachbarn im Anschluss noch geführt hat…
…und was das mit Stoffhäsinnen, Brigitte Bardot, den Schönen & den Reichen sowie Seeigeln zu tun hat, für den schreibe ich demnächst gern die Fortsetzung…
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